Familiendrama im Thrillergewand – oder umgekehrt

Karin Slaughter führt den Leser in ihrem neuesten Roman „Die gute Tochter“ in die Abgründe der menschlichen Seele, wobei  ein gewisses Durchhaltevermögen benötigt wird, bis man sich zum spannenden Ende vorgearbeitet hat.

Titel: Die gute Tochter

Autor: Karin Slaughter

Genre: Thriller

Verlag: HarperCollins

Seitenzahl der gebundenen Ausgabe: 608 Seiten

Erscheinungsdatum: 3. August 2017

 

Zwei maskierte Männer dringen in das Haus der beiden Schwester Sam und Charlie ein, töten ihre Mutter und verschleppen die beiden jungen Mädchen in den Wald. Die Täter wollen sich am Vater der Schwestern rächen, der als Anwalt Drogendealer, Vergewaltiger und Mörder vor Gericht verteidigt. Die Familie ist deshalb in ihrem Heimatort nicht besonders gut gelitten, hat Vater Rusty es doch gerade erst erreicht, dass ein Vergewaltiger freigesprochen wird, während sich sein Opfer, ein kleines Mädchen, erhängt hat. Sam wird in einer Grube im Wald verscharrt, aber Charlie kann fliehen…
28 Jahre später: Charlie ist ebenfalls Anwältin geworden und arbeitet in der Kanzlei ihres Vater, als sie Zeugin eines Amoklaufs in einer Schule wird – und die Vergangenheit beginnt, sie einzuholen.

Zwiespältiger Eindruck

Selten hat ein Buch bei mir einen solch zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Ich kenne von Karin Slaughter ihre Reihe rund um Will Trent (z. B. „Tote Augen“ oder „Bittere Wunden“), die mir sehr gut gefallen hat. Auch bei diesen Thrillern spielt das Privatleben der Protagonisten, insbesondere ihre Vergangenheit, eine große Rolle. Aber trotzdem gibt es einen spannenden Kriminalfall, in dem ermittelt wird.

Bei „Die gute Tochter“ ist das (zeitweilig) anders, weshalb ich die Bezeichnung „Thriller“ auch nicht ganz passend finde. Mit diesem Genre verbinde ich eine rasante Handlung, spannende Szenen, eben so etwas wie „die Finger in die Lehne krallen“ 😉. Obwohl die ersten Szenen sehr dramatisch sind, kann dieses Versprechen bezüglich der Spannung nicht so recht gehalten werden. Immer wieder wird das Gefühlsleben von Charlie ausgiebig thematisiert, ohne dass der Leser alle Informationen erhält. So werden z. B. lediglich Andeutungen darüber gemacht, wie Charlie damals vor 28 Jahren die Flucht gelingen konnte und wie es ihr ergangen ist. Ebenso bleibt das Schicksal von Sam zunächst fraglich.

Mehr Dramatik als Spannung

Das klingt eigentlich so, als wenn man gerne schnell weiterlesen möchte, um alles zu erfahren, aber die Geschichte wird durch Rückblenden und Wiederholungen etwas ausgebremst. Im Gegenteil, manchmal waren mir die fehlenden Infos wirklich zufiel, ich fühlte mich fast ein bisschen verschaukelt (ich hoffe, ihr versteht, was ich meine). Beispielsweise habe ich mich lange Zeit über den Titel „Die gute Tochter“ gewundert und mich gefragt, wer damit im Bezug auf wen gemeint ist. Vielleicht sogar das Paradebeispiel, um zu verdeutlichen, wie dieser Roman „tickt“. Schon fast eine philosophische Betrachtung: wer ist gut, wer schlecht, und aus welcher Perspektive gesehen.
Damit hier aber kein falsche Eindruck entsteht: Wer Karin Slaughter kennt, weiß, dass sie mit der Schilderung von Brutalität nicht zimperlich ist. So gibt es neben großen Gefühlen auch sehr gewalttätig beschriebenen Szenen. Empfindliche Seelen seien also gewarnt!

Psychologisches Familiendrama

Vielleicht trifft deshalb der Begriff „Dramatik“ hier besser zu als „Spannung“, denn dramatisch ist sowohl der traumatische Überfall in der Vergangenheit als auch der Amoklauf in der Gegenwart. Leider wird die Handlung selbst aber nicht schnell genug vorangetrieben. Über weite Teile dominieren familiäre Beziehungen und Verstrickungen den Mittelteil des Buches, wodurch eben gewisse Längen entstehen.  Ich dachte zwischenzeitlich sogar, dass der Fall in der Schule gar nicht mehr thematisiert bzw. aufgelöst würde. Das passiert tatsächlich erst ganz zum Ende des Buches, dann allerdings mit einem Knalleffekt, der wirklich gelungen ist. Auch die Geschehnisse der Vergangenheit erfahren eine sehr interessante und überraschende Auflösung.

Wer durchhält, wird belohnt

Vielleicht versteht ihr mittlerweile meinen Zwiespalt: Auf der einen Seite hatte ich bis etwa der Hälfte des Romans das Gefühl, mich mehr oder weniger durch ein psychologisches Familiendrama zu quälen. Und, ganz ehrlich, wäre die Autorin mir unbekannt gewesen, hätte ich ihr Werk vielleicht wirklich beiseite gelegt, was ich eigentlich sehr selten tue. Aber dank einer langen Zugfahrt, bin ich doch bei der Stange geblieben – und wurde belohnt! Das letzte Drittel des Buches fand ich toll und auch (wieder) sehr spannend! Tatsächlich hat gerade die Auflösung meine Bewertung extrem verändert.

Fazit: Psychodrama für Leser mit Durchhaltevermögen, sie werden belohnt, sollten aber auch vor brutalen Szenen nicht zurückschrecken. Empfehlenswert für Thriller-Leser mit Hang zum Drama.

Gerngelesen: 📚📚📚📚 4 von 5

Über Corinna

Ist von Nordrhein-Westfalen nach Baden-Württemberg ausgewandert und vertreibt sich ihre Zeit mit Krimis, Thrillern und Liebesromanen. Außerdem ist sie ein echter Hörbuch-Fan. 😀

4 Gedanken zu „Familiendrama im Thrillergewand – oder umgekehrt

  1. Bisher habe ich das Buch ignoriert, weil ich irrtümlich angenommen hatte, es würde zu einer Serie gehören. Ich kenne von Karin Slaughter die Grant-County-Reihe (mit Sara Linton) und hab den ersten Band der Reihe mit Will Trent gelesen – ich weiß also, dass sie ziemlich blutig und brutal schreibt. Ich finde aber auch, dass sie richtig gut erzählen kann und dieser Einzelband macht mich doch wieder neugierig.
    Danke für diese interessante Buchvorstellung.
    Liebe #litneztwerk-Grüße von
    Gabi

    1. Ja genau, die Reihe mit Will Trent finde ich richtig gut. Dieses Buch ist schon etwas anders, als man es von ihr gewohnt ist…
      Aber bis auf die Durststrecke in der Mitte ist es wirklich lesenswert!
      Viele Grüße,
      Corinna

  2. Liebe Corinna,
    Ich kenne von Slaughter auch die beiden Reihen und mag den rasanten Schreibstil dort sehr gern. Dieses Buch kenne ich nicht, aber was du schreibst erinnert mich sehr an „Pretty Girls“ von ihr. Das war auch zu großen Teilen eher psychologisches Drama statt Thriller. Ich habe das Buch auch als sehr zweischneidig erlebt und konnte mich nicht gor echt festlegen. Einerseits psychologisch interessant, andererseits stellenweise langatmig. So ähnlich scheint es dir ja hier auch gegangen zu sein. Daher werde ich von diesem Buch wohl die Finger lassen und bleibe bei den Reihen.
    Liebe Grüße, Julia

    1. „Pretty Girls“ kenne ich nicht, aber der Unterschied zu ihren Reihen ist schon groß.
      Viele Grüße,
      Corinna

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